Von Töpfen und Meinungen: Die Kunst, Demokratie zu schmecken.

Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft – diese drei Zeitebenen bilden das Fundament für unser Leben und unsere Gesellschaft. Doch wie gehen Menschen in dem ehemaligen ostdeutschen Ort Demmin mit den dunklen Kapiteln deutscher Geschichte um? Wie empfinden sie das gegenwärtige Lebensgefühl in Demmin und welche künftigen Visionen oder Möglichkeiten zeichnen sich am Horizont dieses Ortes ab? Dieser Frage widmete sich das unbefangene Kunstprojekt „Gedankenräume in Demmin“. Über einen Zeitraum von drei Jahren wurden Interviews geführt und aus den gesammelten Erzählungen progressive Kunstinstallationen gestaltet, welche die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Bewohner von Demmin auf beeindruckende Weise miteinander verknüpft.

Mit Respekt und Offenheit den Geschichten Begegnen

Mit Menschen über schwierige und tabuisierte Themen ins Gespräch zu kommen, kann eine erhebliche Herausforderung darstellen. „Gedankenräume in Demmin“ liefert wichtige Impulse, die auf viele Situationen übertragbar sind. Das Kunstprojekt ermöglichte es den Bewohnern von Demmin, ihre persönlichen Erfahrungen in einem sicheren und kreativen Raum zu teilen. Es öffnete die Tür zu Gesprächen über Geschichte und Trauma, die sonst oft im Verborgenen bleiben. Ein wichtiger Aspekt war die respektvolle Herangehensweise und die bewusste Entscheidung, sich ohne vorherige Recherche den Menschen und ihren Geschichten zu nähern. Diese Herangehensweise förderte die Offenheit und führte dazu, dass Menschen bereit waren, ihre Erlebnisse zu teilen.

In Bezug auf Resilienz zeigt „Gedankenräume in Demmin“, wie Menschen, selbst in schwierigen und belastenden Situationen, die Fähigkeit zur Widerstandsfähigkeit besitzen. Künstlerische Ausdrucksformen wie Kunsttherapie oder soziale Kunstprojekte wie dieses, zeigen, wie Menschen ihre Geschichten verarbeiten und eine stärkere Verbindung zu ihrer Vergangenheit und Identität aufbauen. Zudem können sie für viele Menschen der erste Impuls sein, diesen schwierigen Schritt überhaupt erst zu wagen. Dieser Prozess der Selbstreflexion und des Austauschs kann dazu beitragen, traumatische Erfahrungen zu bewältigen und Offenheit und Austausch zu fördern. Das Projekt zeigt: Um schwierige Themen anzugehen und Resilienz zu stärken, sind Empathie, Offenheit und Unvoreingenommenheit der Schlüssel. Kunstprojekte wie das in Demmin schaffen einen Raum, in dem Menschen ihre Stimme finden und sich gegenseitig ermutigen, sich mit ihren eigenen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Sie können dazu beitragen, Brücken zwischen den Menschen zu bauen und das Verständnis für die kollektiven Herausforderungen unserer Gesellschaft zu vertiefen. „Gedankenräume in Demmin“ lehrt uns, dass Kunst nicht nur ästhetisch, sondern auch emotional und sozial tiefgreifend sein kann, wenn es darum geht, schwierige Themen anzusprechen, die Gemeinschaft zu stärken und eine demokratische Zukunft zu gestalten. 

Kunst, in all ihren Ausdrucksformen, hat die einzigartige Fähigkeit, tief in die Seele der Gesellschaft einzudringen und komplexe, manchmal schmerzhafte Themen auf eine Weise anzusprechen, die rein rationale Diskussionen oft nicht erreichen können. Sie ermöglicht es Menschen, sich auf emotionaler Ebene mit Geschichte, sozialen Konflikten und Identität auseinanderzusetzen. Kunst erzählt Geschichten, sie vermittelt Empathie und schafft Verbindungen zwischen den Menschen. Sie kann die Vergangenheit veranschaulichen, die Gegenwart reflektieren und Visionen für die Zukunft anregen. In dieser Hinsicht ist „Gedankenräume in Demmin“ ein leuchtendes Beispiel dafür, wie Kunst als Medium genutzt werden kann, um die Tiefe und die Vielschichtigkeit unserer kollektiven Erfahrungen zu erfassen und Menschen in Bezug auf ihre eigenen Erfahrungen zu öffnen. Es erinnert daran, dass Kunst nicht nur eine ästhetische Freude ist, sondern auch eine kraftvolle Stimme des Wandels und des Verstehens in der Welt. 

Ein episches Unterfangen: Das Projekt in drei Akten

Das Projekt kann als Reise verstanden werden. Jede Reise hat einen Anfang und diese begann für „Gedankenräume in Demmin” 2017 mit einer Mischung aus Intuition, Offenheit und Interesse am Menschen.

Akt 1: Offene Interviews – Das großzügige Gesprächsangebot (2017)

Im Jahr 2017 stand die Idee im Raum, ein Kunstprojekt zu realisieren, das die Bewohner des Ortes näher zusammenbringen sollte. Der Ansatz, sich als Fremde ohne Vorwissen auf die Menschen und ihre Geschichten einzulassen, sollte ein authentisches und unverfälschtes Bild der jeweiligen Orte und der Geschichten ihrer Menschen ermöglichen. Dies war auch in Demmin der Fall, wo die Geschichte besonders bedeutsam war und Menschen mit ihren Erzählungen faszinierten. Demmin ist eine kleine Stadt im Herzen Mecklenburg-Vorpommerns. Die Stadt liegt am Zusammenfluss der Flüsse Peene, Tollense und Trebel, das touristisch gerne Dreistromland genannt wird. Demmin hat eine lange Geschichte, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht. Die Stadt war einst eine bedeutende Handelsstadt und ein wichtiger Knotenpunkt für den Verkehr zwischen Ost und West. Heute ist Demmin eine ruhige und beschauliche Stadt, die ihren Besuchern ein Stück Geschichte und Kultur bietet. 

Der Ausgangspunkt im Projekt war es, Menschen über ihre Zufriedenheit, ihr Leben und ihre Zukunftsträume zu befragen. Zwischen Kaffee und Kuchen, ob im gemütlichen Café oder im installierten Raumkörper direkt auf der Straße, öffnete sich die Tür zu unvoreingenommenen Gesprächen. Ein Stück Torte gegen deine Geschichte – eine köstliche Einladung zum offenen Austausch anstatt eintöniger Interviews. Das kam an und schnell entstanden inspirierende Gespräche. Doch die Antworten der Demminer unterschieden sich von denen anderer Orte im Osten Deutschlands. Wie in anderen Orten wurde auch in Demmin viel über die Zeit nach der Wende gesprochen. Doch in Nebensätzen kam immer wieder ein düsteres Kapitel der Geschichte auf: die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges in Demmin. Das Bedürfnis vieler Bewohner:

„Wir wollen nicht auf die Geschichte reduziert werden“
– anonymes Zitat eines Bewohners

Die Gespräche wurden aufgezeichnet und schließlich anonymisiert und verschriftlicht. Die Erkenntnisse sollten später den Verlauf des Projektes beeinflussen. 

„Ich wollte wissen, welche Wünsche und Visionen die Menschen für die Zukunft haben. Ich hörte heraus, dass die Geschichte eine große Rolle spielt. Durch diese wurde mir klar, wie wichtig es ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, damit man die Zukunft gestalten kann“
– Initiatorin und Künstlerin Kathrin Ollroge

Dieser erste Schritt legte den Grundstein für das ehrgeizige Kunstprojekt. Die fesselndsten Aussagen wurden vertont und schließlich nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sortiert. Nächster Halt: Das 3-Gänge-Menü der Zeiten zwei Jahre später.

Akt 2: Kulinarische Klänge – Ein Dreigänge-Menü der Zeiten mit dem Echo der Bevölkerung (2019)

Aus den Erzählungen aus Akt 1 wurde ein künstlerisches Werk geschaffen – ein „Drei-Gänge-Menü“ der Zeiten. Die Suppe symbolisierte die „wieder aufgewärmte“ Vergangenheit, geprägt durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges. Eine Gemüse-Pfanne verkörperte die Gegenwart, und die Zukunft wurde in Form einer süßen Nachspeise serviert, als Metapher für die Hoffnung und die Träume der Demminer. Jeder der drei Gänge des Menüs war durch eine Farbe repräsentiert: Grau symbolisierte die Vergangenheit, Grün stand für die lebendige Gegenwart, während Rosa, passend zur süßen Nachspeise, einen zuckersüßen Ausklang bot. Während jedes Gangs hörten die Teilnehmer über Kopfhörer die vertonten Aussagen ihrer Nachbarn aus den unterschiedlichen Zeiten, die dann als Ausgangspunkt für angeregte Diskussionen am Tisch dienten. Als besonderes Element des Abends wurden die Tischgespräche aufgezeichnet, natürlich immer mit vorheriger Zustimmung der Teilnehmenden.

Im Zusammenspiel von Hören und Sehen entfaltet Kunst ihre volle Wirkung. Daher ergänzte neben der Audio-Kulisse eine sorgfältig ausgewählte, kostümierte Untermalung das visuelle Erlebnis. 

Dieser kulinarische Akt bot den Besuchern nicht nur die Möglichkeit, die Geschichten und Erfahrungen der Menschen aus Demmin auf besondere Weise zu erleben, sondern förderte auch den Dialog und das gemeinsame Reflektieren über die Geschichte.

Aus den vielschichtigen Aufnahmen entstand ein Theaterstück, das, in audiovisueller Raffinesse transformiert, als Audio-Theaterstück die Bühne des dritten Aktes prägte.

Akt 3: Echo des Gesagten – Das Audio-Theater unter dem Riesentisch (2020)

Im dritten Akt lud das Kunstprojekt zu einer gemeinschaftlichen Aktion ein: Dem Kartoffelschälen. Gemeinsam schälten die Anwesenden Kartoffeln, ein scheinbar alltäglicher Akt, der jedoch tiefere Bedeutung erlangte, als daraus symbolisch Pommes produziert wurden. Es war eine Geste, die sowohl die Einfachheit als auch die Gemeinschaft feierte.

Nach diesem Akt des Gemeinschaffens wurden die Besucher unter einen überdimensionalen Tisch geführt. Ein Ort, an dem sie die soeben hergestellten Pommes genießen konnten, während das Audio-Theaterstück ihnen die Geschichte erzählte. Doch dieser Kolossaltisch war nicht nur ein kreatives Designelement. Er verkörperte die Erinnerung einer Teilnehmerin, die erzählte, wie sie einst als Kind, versteckt unter dem Esstisch ihrer Verwandten, von der dunklen Geschichte der Stadt erfuhr, die Gesprächsfetzen aber nicht einordnen konnte. In dieser Kunstinstallation wurde jenes Gefühl der Entdeckung, des Verborgenen und der Erkenntnis nachempfunden, indem die Besucher sowohl kulinarisch als auch auditiv in die Erzählung eintauchten. Es war eine Reise in die Tiefen der Erinnerung, wo das Persönliche und das Historische aufeinandertreffen.

Kunst als Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

„Gedankenräume in Demmin“ ist ein Beispiel dafür, wie Kunst als Medium genutzt werden kann, um auf komplexe gesellschaftliche Themen einzugehen. Die Künstlerin Kathrin Ollroge schuf ein Werk, das die Bewohner von Demmin in einen Dialog über ihre Geschichte und ihre Zukunftsträume brachte. Das Projekt ermutigt uns, uns mit unserer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, um die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Es zeigt uns, dass Kunst nicht nur schön ist, sondern auch Verbindungen schafft und Gedankenräume in Demmin öffnet.

Nach dieser eindrücklichen Erfahrung, in der Kunst, Geschichte und Gemeinschaft auf so einzigartige Weise miteinander verwoben wurden, richten wir nun unseren Blick auf die kreative Seele hinter diesem Meisterwerk. Es folgen Fragen an die Künstlerin.

Im Fokus: Ein tiefgründiges Gespräch mit der kreativen Seele 

  1. Was hat Sie dazu inspiriert, dieses besondere Projekt zu konzipieren?
  2. Wie wählen Sie die Symbole und Elemente aus, die in Ihrem Werk zum Einsatz kommen, wie z.B. der Kolossaltisch?
  3. Welche Rolle spielte die Gemeinschaft in Ihrem kreativen Prozess und wie haben die Teilnehmenden das Endprodukt beeinflusst?
  4. Gab es während der Entstehung des Projekts besondere Herausforderungen oder Aha-Momente?
  5. Wie sehen Sie die Verbindung von Essen – von Kartoffelschälen bis zu Pommes – und Erzählung in Ihrem Werk?
  6. Was möchten Sie, dass die Besucher von diesem Erlebnis mitnehmen?
  7. Welche Botschaft oder Emotion möchten Sie durch Ihre Kunst vermitteln?
  8. Was können andere Kunstschaffende oder Engagierte im Bereich Demokratiebildung von diesem Projekt lernen?
  9. Können Sie uns einen kleinen Einblick in Ihr bevorstehendes Folgeprojekt geben?

Blogbeitrag Demmin von visionYOU GmbH